Sarah Eul hat eine unserer Aktionen begleitet und einen wunderbaren Artikel geschrieben. Dieser Artikel wurde am 02. April 2024 von der RP und der NRZ veröffentlicht. Dankenswerter Weise dürfen wir diesen Artikel und die Bilder hier für unsere HP nutzen. Danke an Sarah, danke an RP und NRZ. Danke an Thorsten Lindekamp für die Fotos.
Rollstuhl: SPD im Selbstversuch
Corina Grieger sitzt im Rollstuhl. Sie weist immer wieder auf Barrieren in Emmerich hin und hat die Stadtverwaltung und die Politik dazu eingeladen, einmal ihre Perspektive einzunehmen.
EMMERICH | (seul) Vor knapp 20 Jahren schlug das Schicksal bei Corina Grieger zu. Mehrere Schlaganfälle erlitt die damals 30-Jährige. Teilweise konnte sie kaum mehr sprechen – was sie mittlerweile aber wieder hervorragend kann. Nur, eines kann sie seit den Schlaganfällen nicht mehr: Sich eigenständig fortbewegen. Die Emmericherin sitzt daher in einem elektrischen Rollstuhl.
Trotz des Handicaps: Corina Grieger ist viel in ihrer Heimatstadt unterwegs. „Und da fallen mir leider immer wieder Barrieren auf“, sagt sie. Barrieren, die es abzubauen gilt. „Und das sicher nicht nur für Rollstuhlfahrer.“ Denn „Stolperkanten“ sind auch Nutzer von Rollatoren oder Eltern mit einem Kinderwagen oftmals ein Hindernis.
Corina Grieger weist immer wieder gern auf Barrieren in der Stadt Emmerich hin. Damit sie nicht selbst immer nur Hinweise geben muss, sondern sich das Thema Barrierefreiheit besser in den Köpfen jener verankert, die dahingehend auch entsprechende Entscheidungen treffen, hat die 49-Jährige vor einiger Zeit eine besondere Aktion ins Leben gerufen.
Stadtverwaltung und Politik sollen nämlich einmal ihre Perspektive einnehmen. Und sich dementsprechend in einen Rollstuhl setzen. Corina Grieger hat bereits Touren durch die Stadt mit der Verwaltung unternommen. Und auch Teilen der Politik. „Jedem habe ich das Angebot gemacht. Und es wurde dankend angenommen.“ So wie nun mit der SPD-Fraktion.
Die notwendigen Rollstühle für das Unterfangen stellt die Senioreneinrichtung St. Augustinus zur Verfügung. In der Nähe, am Willibrord-Spital, startet daher dann auch jede Runde. Von dort geht es dann über die Fährstraße zur Promenade über den Alten Markt zum Neumarkt und am Neuen Steinweg vorbei, um dann an der Gesamtschule entlang zurück zum Ausgangspunkt zu gelangen.
Neben den Genossen der SPD nahm kürzlich auch der Inklusionsbeauftragte des Kreises Kleve, Niklas Beyer, teil. Auch ihn hatte Corina Grieger eingeladen – sofort sagte er zu. „Das ist eine tolle Aktion“, findet Beyer. Er hofft, dass vor allem in Zukunft – wenn etwa auch dann Städte wie Rees und Emmerich Inklusionsbeauftragte haben – viel mehr das Thema Barrierefreiheit angegangen werden kann.
Denn: Zu tun ist einiges, wie die Vertreter der Politik schnell merken. Doch bevor das ein oder andere Hindernis entdeckt wurde, ging es zunächst für einige SPD-Mitglieder ungewohnterweise in den Rollstuhl. So wie für Leonie Pawlak. Normalerweise ist die rüstige Seniorin selbst mit dem Rollator ab und an unterwegs. „Aber das ist hier etwas ganz anderes.“ Schon allein einen Rollstuhl allein mit der Armkraft voranzubringen, „schaffe ich nicht“.
Auch Lisa Braun nimmt Platz im Rollstuhl. „Ein komisches Gefühl. Man ist einfach ausgeliefert“, sagt sie und auch Niklas Beyer, der ebenfalls das erste Mal darin sitzt, nickt. Gemeinsam – und mit der Schubkraftkraft anderer – geht es zur Promenade. Die erste Tücke des Weges lässt nicht lang auf sich warten: eine Bordsteinkante. „Da kommt man allein eigentlich kaum runter“, weiß Grieger. Mit Hilfe und rückwärts geht es aber letztlich.
Aber auch selbst das bloße Fahren auf dem gepflasterten Gehweg, „das geht echt in den Rücken“, sagt Lisa Braun. Und das geht auch noch schlimmer. Die Pflasterung der Fährstraße runter zum Rhein – eine Tortur. Ebenso das Kopfsteinpflaster auf der Promenade. „Da muss sich was ändern“, sagt Pawlak. Entsprechend ist aber auch schon etwas in die Wege geleitet.
Im Rollstuhl sitzend, „nimmt man die ganze Umwelt einfach eine Etage tiefer wahr“, sagt Lisa Braun. Das Gefühl des Ausgeliefertseins macht sich bei den Rollstuhl-Neulingen breit. Bei jeder Kante überlege man, wie man diese meistert. Schlimm auch: die Autos am Neumarkt. „Wenn die ausparken, fühlt man sich ungesehen“, sagt Pawlak.
Selbst beim kleinen Rundgang von einer Stunde wird schnell klar, dass es noch viele Stolpersteine in Sachen Barrierefreiheit gibt. „Und da reden wir ja nur von Barrieren für unter anderem Rollstuhlfahrer“, sagt Niklas Beyer. „Dass es hier etwa kaum Blinden-Leitsysteme gibt, ist auch etwas, worüber man nachdenken muss.“
Am Ende des Rundgangs sind die Vertreter der SPD dankbar für die Erfahrung. Und: „Es ist schon ein gutes Gefühl, wieder aus dem Rollstuhl tatsächlich aufstehen zu können“, sagt Leonie Pawlak. „Ja, und das kann ich gerade nicht. Daher ist es so wichtig, die Barrieren abzubauen“, so Corina Grieger.
Info
So viele Menschen gelten als schwerbehindert
Zahl
Zum Jahresende 2021 lebten in Deutschland rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen (Statistisches Bundesamt)
Definition
Als schwerbehindert gelten Personen, denen die Versorgungsämter einen Behinderungsgrad von mindestens 50 zuerkannt haben. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung waren 9,4 % der Menschen in Deutschland schwerbehindert.